Haareis
Wie oft hat man schon die Möglichkeit direkt vor der eigenen Haustüre ein seltenes Naturphänomen zu sehen? Nicht allzu oft, denke ich und es als ein solches wahrzunehmen ist nicht selbstverständlich. Vorigen Herbst habe ich dieses zum ersten Mal entdeckt. Bei einem Spaziergang sah ich „weiße Flecken“ im Wald. Das fand ich seltsam, denn es lag kein Schnee und in der Nacht hatte es nicht geschneit, sondern wie schon die Tage zuvor geregnet. Das machte mich neugierig und ich wollte mir die Sache genauer ansehen.
Bei näherem Betrachten sah es aus wie in Streifen aufgebrochenes Eis. Gut, die Temperatur an diesem Morgen lag um die O° C, aber alles drumherum war nicht gefroren, es gab auch keinen Raureif. Nur an ein paar wenigen Ästen in unmittelbarer Umgebung war dieses seltsame Gebilde zu sehen. Wieder Zuhause recherchierte ich sofort im World Wide Web, um heraus zu bekommen was ich da gesehen habe. Und ich war noch mehr fasziniert, als ich las was ich da las.
Es braucht ganz bestimmte Wetterbedingungen, damit sich diese Naturerscheinung bildet und letztes Wochenende herrschten genau solche: es hat die letzten Tage viel geregnet, es war kalt aber gerade noch nicht gefroren, es war schneefrei und es hatte eine hohe Luftfeuchtigkeit. Ideale Bedingungen. Also warme Klamotten an, raus und in einem nahegelegenen Laubmischwald auf die Suche. Und was soll ich sagen: Volltreffer.
Die erste wissenschaftliche Erwähnung fand das Haar- oder auch Kammeis bereits im Jahre 1833. Sir John Herschel beschrieb es in der Zeitschrift "The London and Edinburgh Philosophical Magazine and Journal of Science". Niemand geringerer als der bekannte Meteorologe Alfred Wegener befasste sich 1918 damit. Aber so richtig konnte und kann man sich bis heute die genaue Entstehung nicht ganz erklären.
Die von Wegener angenommene Vermutung bestätigte allerdings 2008 eine Studie von Gerhart Wagner und Christian Mälzer. Hier ein Auszug: Haareis wird durch das Myzel winteraktiver Pilze (Exidiopsis effusa, auch Rosagetönte Gallertkruste genannt, war in allen untersuchten Proben vorhanden) ausgelöst, deren aerober Stoffwechsel Gase produziert, die das im Holz vorhandene leicht unterkühlte Wasser an die Oberfläche verdrängen. Dort gefriert es und wird durch nachdrängende, beim Austritt aus dem Holz ebenfalls gefrierende Flüssigkeit weitergeschoben.
Doch auch die Dichteanomalie des Wassers, nach der Wasser bei 4 Grad Celsius seine größte Dichte hat, und Sublimationsvorgänge spielen wohl eine Rolle. Wie auch immer, wenn Sie zufällig bei einem Spaziergang „weiße Flecken“ an rindenfreien Stellen von Totholzästen sehen, treten Sie näher, denn es lohnt sich diese wie Zuckerwatte aussehende Gebilde näher zu betrachten. Sie sind etwas Besonderes.
Bis bald und bleiben Sie neugierig,
Wolfgang Lechler